Das ‚Welthafte‘ an der Welt geht verloren: Lost in virtual reality

1992 schrieb Ivan Illich in einem Geburtstagsbrief an seinen Freund Hellmut Becker, seines Zeichens damals Direktor des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung in Berlin:

„Wir waren in den Schlüsselposten, als das Fernsehen den Alltag entrückte. Ich selbst habe mich dafür geschlagen, dass regensicher, auf jedem Dorfplatz von Puerto Rico, der Universitäts-Sender strahlen musste. Ich wusste damals noch nicht, wie sehr damit die Reichweite der Sinne schrumpfen musste, und der Horizont mit verwalteten Darstellungsmöbeln verrammelt würde. Ich dachte nicht daran, dass bald das europäische Wetter aus der Abendschau schon den ersten Morgenblick durchs Fenster einfärben würde. Mit unfassbaren Dingen, wie einer Milliarde Menschen als Säulendiagramm, bin ich Jahrzehnte unzüchtig umgegangen. Seit Januar kommt nun mein Kontoauszug von Chase Manhatten mit einer Säulengraphik dekoriert: Sie erlaubt mit einem Blick meine Ausgaben für Kneipen und für Büromaterial zu vergleichen. Durch Hunderte von kleinsten Informations-, Verwaltungs- und Beratungsleistungen, die sich mir anbiedern, wird mir meine conditio humana interpretiert. So smooth and slick habe ich mir den Einbau des Erziehungsvorhabens in den lebenslangen Alltag nicht vorstellen können, als ich mit Dir, Hellmut, vor mehr als zwanzig Jahren von diesem Thema sprach.

Immer tiefer sinkt die sinnliche Wirklichkeit unter die Folien von Seh-, Hör- und Schmeck-Befehlen. Die Erziehung zum unwirklichen Machwerk beginnt mit den Lehrbüchern, deren Text auf Legenden zu Graphik-Kästen zusammengeschrumpft ist, und endet mit dem Sich-Festhalten des Sterbenden an ermunternden Test-Resultaten über seinen Zustand. Erregende, seelisch besetzende Abstrakta haben sich wie plastische Polsterüberzüge auf die Wahrnehmung von Welt und Selbst gelegt. Ich merke es, wenn ich zu jungen Leuten über die Auferstehung vom Tode spreche: Ihre Schwierigkeit besteht nicht an einem Mangel an Vertrauen, sondern an der Entkörperung ihrer Wahrnehmung, ihr Leben in konstanter Ablenkung vom Fleisch.

Du und ich bereiten uns vor, in einer dem Tode feindlichen Welt nicht mehr „zu Tode zu kommen“, sondern intransitiv zu sterben. Lass uns zu Deinem siebzigsten Geburtstag die Freundschaft feiern, in der wir Gott für die sinnhafte Wirklichkeit der Welt, durch unseren Abschied von ihr loben sollen.“

Immer tiefer sinkt die sinnliche Wirklichkeit unter die Folien von Seh-, Hör- und Schmeck-Befehlen.

Wir Menschen werden also technisch und sozial immer mehr und unmerklich zu ‚Cyborgs‘, d.h. zu ‚cybernetic organisms‘. Was würde Illich zum heurigen Jahr sagen, im Dezember 2020? Wir erleben gerade einen witeren gewaltigen ‚Digitalisierungsschub‘ der zwischenmenschlichen Kommunikation und des menschlichen Lebens, also etwas, das Illich mit dem treffenden Wort ‚Weltschwund‘ bezeichnete – Home Office, Distance Learning, Tele-Medizin, etc.

Es geht uns scheinbar wie dem berühmten Zauberlehrling …..

„Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.“

Aber merkt das überhaupt noch wer? Dem jungen Zauberer war die Gefahr bewusst, die er herauf beschworen hatte, hat er doch selber wissentlich zu zaubern versucht. Sind wir, die chronisch Verzauberten, uns unserer Lage überhaupt noch bewusst?

Ich fürchte, dass wir uns noch tiefer in den gerade ablaufenden Alptraum verstricken.

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Future zone

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Das Unerhörte ist alltäglich geworden

Die Überschrift ist ein Satz von Ingeborg Bachmann.

Alle Tage

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.

Was meint dann so gesehen heute ‚erhört‘? Nun, das Gedicht nennt die Voraussetzungen dafür: Tapferkeit vor dem Freund, und – Geduld. Vor allem Geduld mit sich selber und anderen, nicht im Sinne von alles ‚erduldend‘, sondern von ‚wachsam lauschend‘, einen ‚offenen Geist habend‘: und damit Geheimnisse verratend, welche die menschliche Würde verletzen, und niemandem blind gehorchen.

>‘Du bist die einzige Person, welche Dir Zeit geben kann.‘ Dieser Satz bringt in mir etwas zum Schwingen. Ja, tatsächlich: niemand sonst kann einem ‚Zeit geben‘. Das ist wirklich fundamental: Lernen, sich Zeit zu nehmen.< – Walter Carrington

„Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache.“ – Franz Kafka

„Das menschliche Leben ist so gemacht, dass es nur erträglich ist, wenn wir uns über seine Mängel hinwegtäuschen. Diejenigen aber, welche jede Selbsttäuschung zurückweisen, ohne jedoch gegen ihr ‚Schicksal‘ zu rebellieren, enden schließlich an einem Ort außerhalb von Raum und Zeit, welcher ihnen erlaubt, das Leben so zu nehmen, wie es kommt.“ – Simone Weil

„Die Wirklichkeit hat keinen Inhalt und keine Form. Daher kann sie auch nicht erkannt werden. Für gewöhnlich sieht man sich aber um und sagt, ‚Der Raum hier ist doch sicherlich wirklich. Mit Sicherheit ist der Inhalt dieses Raums wirklich‘. Nein! Dieser ‘Inhalt’ ist nur das, was Du gerade in ihn hineinsiehst. ‚In Wirklichkeit‘ ist das, womit Du wahrnehmen kannst, das, was wirklich ‚wirklich‘ ist. Genehmige Dir also die Möglichkeit und wirf Dich selber mit Haut und Haar in die Suche nach dem Ursprung von allem und jedem, jenseits aller Reize und Anschaulichkeit, nach dem Urgrund, welcher von außen betrachtet nichts als Dunkelheit und Stille ist.  – Albert Low

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Zum Wechselspiel von Politik & Verwaltung im Covid-Krisenmanagement

Wolfgang Gratz (Experte für empirische Verwaltungsforschung. Aus dem Jahr 2012 stammt seine Studie „Zur Ausgestaltung der Nahtstellen zwischen Politik und Bundesverwaltung in Österreich“. Der u.a.Text entstand bis 27. Oktober und umfasst das Wirken in der Krise bis dahin):

Krisen wie die aktuelle sind ganz allgemein Stunden der Nacktheit, in denen sich die Stärken und Schwächen von Organisationen und Institutionen in voller Deutlichkeit zeigen, da sie der schützenden Hüllen von Alltagsroutinen beraubt und großer öffentlicher Aufmerksamkeit ausgesetzt sind.

Vorkehrungen hätten besser sein können

Die „Flüchtlingskrise“ 2015/16 war vorhersehbar und konnte nur deshalb entstehen, weil man völlig überrascht war und somit keine Entscheidungsalternativen zu einer bloß reaktiven Vorgehensweise hatte. Ebenso war das Auftreten einer Pandemie absehbar. Nicht nur das Global Preparedness Monitoring Board, sondern auch das österreichische Bundesheer (Sicherheitspolitische Jahresvorschau 2020) hielten bereits 2019 ein solches Ereignis für realistisch.

Man mag sich damit trösten, dass es den anderen Ländern auch nicht anders erging. Mit dieser Haltung werden wir aber in die nach Covid-19 nächste, sicherlich kommende Krise ähnlich unvorbereitet hineinrutschen und ähnlich hohe Kosten zu tragen haben wie derzeit.

In einer besseren Welt des Öffentlichen, als wir sie bisher und aktuell haben,

– wäre beispielsweise ein zeitgemäßes Pandemiegesetz vorhanden gewesen;

– hätten spätestens ab Jänner 2020 organisatorische Vorkehrungen stattgefunden, die unter anderem eine rechtzeitige und geordnete Abreise aus Ischgl ermöglicht hätten;

– gäbe es ein flexibles Personalmanagement und Prozesse, um rasch externe Ressourcen, wie etwa juristische Kompetenz, zu erschließen und geordnet in die Legistik einzubauen, um so qualitätsvolle und verfassungskonforme Normen zu gewährleisten;

– bestünden keine Mehrgleisigkeiten von Gremien, Ablaufprozessen und Erfassungssystemen. Aus ausländischer Sicht erscheint das Entstehen zweier unterschiedlicher Informationssysteme zur nationalen Entwicklung der Pandemie ein halbes Jahr nach deren Beginn wohl als folkloristische Besonderheit;

– wäre das Verhältnis Bund-Länder in Form eines lernenden Systems ausgestaltet, in dem vorbehaltlos, offen und neugierig die Pandemiebekämpfung laufend verfeinert wird. Die Arabesken des Bundesregierungs-Wien-Verhältnisses oder Zustände wie am Karawankentunnel am 24. August (tausende Reisende mussten bis zu 18 Stunden wartend ausharren) wären undenkbar;

– wäre ein arbeitsteiliges Krisenmanagement spätestens im Sommer eingerichtet worden, das einerseits die Tagesaktualitäten abarbeitet und andererseits Vorkehrungen für das angekündigte Ansteigen in den nächsten Monaten getroffen hätte. So aber hat man den Eindruck, dass nicht nur im engeren Pandemie-Management, sondern beispielsweise auch im Schulbereich das Ansteigen der Fälle einen hohen Überraschungseffekt hatte, wodurch geordnete Bewältigungsformen der aktuellen Situation nunmehr erst schrittweise entwickelt werden konnten;

– wäre bundesweit zumindest im achten Monat der Pandemie ein rasches belastbares TTI-System (Testing Tracing Isolating) vorhanden.

Wir werden nie in Erfahrung bringen, ob uns solche professionellen und achtsamen Vorkehrungen einen zweiten Lockdown (weitgehend) erspart hätten. Deutlich erkennbar ist jedoch, dass, vornehm formuliert, im Covid-19-Krisenmanagement viel Luft nach oben besteht.

Wenn man nur ein Promille des 50-Milliarden-Euro Schutzschirms, den die Bundesregierung aus Anlass von Covid-19 aufgespannt hat, in die Entwicklung leistungsfähiger, klarer und zugleich flexibler Strukturen und Prozesse gesteckt hätte, stünden wir aktuell deutlich besser da. Anders gesagt: Organisatorische Unterbegabung führt zu Überschussrepression in Form von ansonsten nicht notwendigen Freiheitseinschränkungen und zusätzlichen wirtschaftlichen Belastungen. Noch schlimmer als das Budgetdefizit ist das Defizit an Organisationsfähigkeit. Dieses ist umso bedauerlicher, als die unmittelbaren Dienstleister, also die Lehrer, Polizisten, Finanzbediensteten, Bediensteten der Bezirksverwaltungsbehörden, um nur einige zu nennen, großteils bisher in der Pandemie hohe Leistungsorientierung, Engagement und Flexibilität gezeigt haben. Sie hätten sich eine bessere strategische Steuerung verdient und benötigten diese dringend.

Mehr unter:

https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/chronik/oesterreich/2083897-Covid-19-und-die-evolutionaere-Sackgasse-des-Oeffentlichen.html

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Jeder Mensch hat ein Brett vor dem Kopf

Jeder Mensch hat ein Brett vor dem Kopf – es kommt nur auf die Entfernung an.

Marie von Ebner-Eschenbach

„Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.“
„Was ist das Schwerste vor allem?“ Die überraschende Antwort: „Was dir das Leichteste dünkt. Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir liegt“.

Ein anderer erläutert diesen Satz:
„Erfahrung ist nicht, was Dir widerfährt. Erfahrung ist das, was Du aus dem machst, was Dir widerfährt.“

Mehr unter folgendem Link:

https://austria-forum.org/af/Kunst_und_Kultur/Volkskultur_und_Mythen/Praxiszone_Dorf_4.0/Notizen/Notiz072_Verdinglichung

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Veil of Thoughts

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Nichts Menschliches ist mir fremd…. ‚Tribute to C.G.Jung‘

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Was uns Pandemien über Gesundheit beibringen könnten

Was bedeutet ‚Gesundheitspolitik‘ in Zeiten einer globalen Pandemie?

Es bedeutet vor allem dieses:

Prävention von Pandemien, Kompetenz im Umgang mit einem alltäglich gewordenen gefährlichen Virus (‚Hygiene) und Optimierung der Behandlungsmöglichkeiten schwer Erkrankter.

Hoch ansteckende Krankheiten machen uns primär eines klar: gemeinsam fallen wir, gemeinsam steigen wir. Was soviel heißt, wir als vergesellschaftete Wesen, die nur in Beziehung vorkommen, sind als gesellschaftliche Wesen herausgefordert, für gesundheitsfördernde Beziehungen (Umweltbeziehungen, Sozialbeziehungen, Selbst-Beziehungen) zu sorgen. Ansonsten holt uns diese Tatsache in Form von unkontrollierbarem Massenleid eines Tages unaufhaltsam ein.

Wir erleben selbiges gerade, sind mitten in einer solchen Situation.

Der kollektive Charakter von Gesundheit und Krankheit wird aber durch die notwendige hygienische Maßnahmen der physischen DISTANZIERUNG und sozialen ISOLIERUNG als Intervention zur Unterbrechung eines explodierenden Infektionsgeschehens verschleiert. Jeder ist potentieller Überträger der Krankheit, somit ein potentieller ‚Gefährder‘ der Anderen. Haltet Abstand voneinander, wascht die Hände und tragt Mundschutz! Es liegt an jedem Einzelenen, an der Eigenverantwortung, ob WIR das Virus „in den Griff bekommen, oder nicht.“ – So lauten die aktuellen Botschaften. Und wenn sie nicht ausreichend ‚greifen‘, gibt es wieder einen ‚Lockdown‘ des gesellschaftlichen Lebens. Als eine Art ‚Strafe‘ für ‚Fehlverhalten’…..

So findet jene problematische Remoralisierung von Krankeit und Gesundheit statt, welche die naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin zu überwinden trachtete. Gesundheitspolitik als Einfallstor sozialer Kontrolle und Macht (‚Biopolitik‘). Wir opfern unsere Freiheit der ‚Risikominimierung‘: exkludieren wir doch gemeinsam potentielle Gefährder!

Eine ALTERNATIVE dazu wäre das Verlassen dieses Wegs der sozialen Spaltung und Stärkung des Bewusstseins unserer gegenseitigen Abhängigkeiten: gemeinsam fallen wir, gemeinsam steigen wir. Bedeutet konkret: erkennen, wie gefährlichen Viren in menschliche Habitate eindringen bzw. wir als Menschen in natürliche Habitate von Tieren eindringen, welche dann gefährliche Viren auf uns übertragen; dass wir alle für eine gesunde Umwelt verantwortlich sind, anstatt wie wild drauflos zu produzieren und konsumieren….. . Solidarische Sozialbeziehugen statt sazialer Spaltungen und statt einseitiger Ausbeutungsverhältnisse; und nicht zuletzt eine solidarische Gesundheitspolitik, die nicht marktökonomisch ‚optimiert‘ wird, und mangelnde Versorgung und Vorsorge an Behandlungsmöglichkeiten bewirkt. Und last but not least: sich selber gesund ernähren, gesund bewegen, etc.

Bislang ist der ‚alternative Weg‘ noch nicht einmal ansatzweise politisch beschritten worden. Sich empören und ducken ist halt einfacher……sich innerhalb der Lebensweise bewegen, statt diese zu ändern, das ‚System‘ in Frage zu stellen, sich genau informieren und Unhaltbares beenden.

Na ja, klar, fürs erste siegen immer die ’schrecklichen Vereinfacher‘. Lernprozesse dauern halt. Vielleicht haben wir noch ausreichend Zeit dafür. Darf ich meine Zweifel anmelden?

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Handlungssicherheit durch gemeinsame Reflexion

Die prinzipielle Unvereinbarkeit vieler sozialer Anforderungen Individuen anzulasten verstärkt Ausweglosigkeit im Verhalten und einen falschen Einsatz von Moral. Die Praxis zeigt, dass man sich daher im ‚Sowohl-als-Auch‘ arrangiert, aber irgendwie zufällig, wenig reflektiert, selten gemeinsam besprochen und ausgehandelt. Immer lauert dahinter die Gefahr gegenseitiger moralischer Belastung und Entwertung. Strukturelle Widersprüche lassen sich nicht durch Setzung übergeordneter Werte aufheben oder nach richtig und falsch entscheiden. Je nach Situation, Aufgabe, Zielsetzung muss anders balanciert werden. Tragfähige gemeinsam verbindliche Werte entstehen immer erst in gemeinsamen Reflexions- und Aushandlungsprozessen.

Prozessethische Reflexion  ist gemeinsame, d.h. laute und miteinander geteilte Selbstreflexion: Es geht dabei um das miteinander Teilen von Sichtweisen, wechselseitiges Anhören, d.h. um Konfrontation des über Andere Gedachten mit dem von ihnen selbst Gesagten. Unterschiede der Sichtweisen und Werte treffen dabei aufeinander, werden gegenseitig wahrgenommen, einander verständlich gemacht und im günstigen Fall so verhandelt, dass sie in gemeinsam getragene Lösungen münden. Zielsetzung dabei ist es, von der individuellen Selbstreflexion zu einer kollektiven Selbstreflexion voranschreiten zu können, die, auf breitere Basis gestellt, letztlich auch mehr Sicherheit in praktischen Fragen und auch eine umfassendere Orientierung in komplexen Themenstellungen und Herausforderungen ermöglichen soll.

Dabei gibt es aber eine grundlegende Schwierigkeit, nämlich das ‚Paradoxon des Wollens‘:

“ Es gibt zwei Hypothesen, die Hypothese der Wissenschaft, dass es keinen Willen gibt (‚Kausalität‘), und die des allgemeinen Menschenverstandes, dass der Wille frei ist.“ Dieses Paradoxon ist nur zu bewältigen, wenn wir die Fähigkeit haben, im offenen Zwiegespräch „des gemeinsamen Denkens Zwei-in-Einem zu werden“, wie es die Philosophin Hannah Arendt so treffend ausgedrückt hat.

Diese Fähigkeit ist uns Menschen als ‚Sehnsucht nach Einheit in Vielfalt‘ zugänglich gegeben, in  jeder Lebenssituation, in jedem Moment. Man kann sie aber nicht explizit herstellen und formal nicht repräsentieren, höchstens metaphorisch andeuten und praktisch leben. Man kann aber die Stolpersteine auf diesem Weg benennen, die Abwege und Blockaden, und so den Weg der gemeinsamen Reflexion frei machen, frei halten.

Siehe auch:

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Umgang mit dem Unheimlichen


>Im Unterschied zu heute galt früheren Zeiten die Fähigkeit, ungewisse, gar gefährliche Begegnungen, zumal mit Fremdem, in friedliche und angstreduzierte Bahnen zu lenken, ungleich mehr.<
>Von derlei zivilisatorischen Errungenschaften sind wir wieder weit entfernt.<


„Lebenserfahren nennt man jemanden, der viel herumgekommen ist, viel erlebt hat, zahlreiche unterschiedliche Länder, Menschen, Sitten und Gewohnheiten kennengelernt, ja sie buchstäblich erfahren hat. Dagegen wird man Menschen, die nie aus ihrem kleinen Dorf hinausgekommen sind und solchen, die das geistige Milieu ihres Konfirmationsstuhlkreises ihr Lebtag nicht verlassen haben, einen eher beschränkten Horizont attestieren. Erfahren kann nur werden, wer sich Gefahren aussetzen kann, wobei hier als Gefahr nicht nur eine existentielle Lebensgefahr gemeint ist, sondern jegliche Konstellation, in der man nicht sicher voraussehen kann, was sich als Nächstes ereignen wird. Für dieses Fehlen von Gewissheit gibt es im Deutschen den schönen Begriff unheimlich. Unheimlich kann schon der dichte Wald sein, in dem das flaue Gefühl der Orientierungslosigkeit auftaucht, was in aller Regel das berüchtigte Pfeifen im Walde hervorruft. Wer noch genügend Phantasie hat, mag sich vorstellen, wie es wohl gewesen sein muss, als sich Gefährten auf unsicheren Schiffen das erste Mal aufs offene Meer hinauswagten und außer Wasser rings herum nichts anderes mehr zu sehen war. Im Unterschied zu heute galt früheren Zeiten die Fähigkeit, ungewisse, gar gefährliche Begegnungen, zumal mit Fremdem, in friedliche und angstreduzierte Bahnen zu lenken, ungleich mehr.
Auch ohne die philosophische Aufklärung des Westens haben viele Kulturen den inneren Zusammenhang zwischen Gefahren und Erfahrung intuitiv verstanden. Der Ethnologe Arnold van Gennep berichtete von zahlreichen Übergangsriten, mit deren Hilfe die schwierige biografische Passage vom Jugendlichen zum Erwachsenen gefordert, erleichtert und eingeübt wurde. Auch in Europa war über viele Jahrhunderte hinweg nach der Lehrzeit in etlichen Handwerksberufen die Wanderschaft, auch Walz genannt, die Voraussetzung dafür, überhaupt Meister werden zu können. Selbst die von allem Weltlichen zurückgezogenen Klöster schickten Mönche auf gefährliche Reisen durch ganz Europa, um wertvolle Bücher zu kopieren. Klugheit und Erfahrung wurden ebenso geschätzt wie die Gelassenheit, nicht bei jeder kleinen Unterbrechung des Gewohnten gleich aus der Haut zu fahren. Die Großväter erzählten nicht nur von früher, sondern auch von draußen, dem außerhalb der vertrauten Umgebung.“

Quelle: Boris Blaha

„Wirkliche Einfachheit liegt in der goldenen Mitte zwischen Gedankenlosigkeit und Affektiertheit. Einfache Menschen sind nicht von äußeren Dingen überwältigt, sodass sie nicht mehr denken können, und sie sind auch nicht an endlosen Spitzfindigkeiten interessiert, die sie nur befangen machen würden. Wer darauf achtet, wohin er geht, ohne die Zeit damit totzuschlagen, über jeden Schritt zu argumentieren oder ständig zurückzuschauen, der ist wirklich einfach. Solche Einfachheit ist ein großer Schatz.“ -Fènelon, Francois de Salinac de la Mothe-F.

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