‚Psychologische Zeit‘ und ‚Chronologische Zeit‘

„Genau genommen leben sehr wenige Menschen in der Gegenwart. Die meisten bereiten sich darauf vor, demnächst zu leben.“ – Jonathan Swift

Der folgende Text von Jiddu Krishnamurti wirkt auf den ersten Blick mehr als befremdlich. Er zweifelt die Sinnhaftigkeit einer Kategorie an, die uns zutiefst vertraut und notwendig und sinnvoll erscheint, nämlich die Orientung an ‚Verangenheit, Gegenwart und Zukunft‘. Krishnamurti, der ‚Weisheitslehrer‘ des 20. Jhdts. schlechthin, bezeichnete diese Kategorie ‚psychologische Zeit‘. Der Physiker Einstein sagt zu dieser psychologischen Zeitvorstellung ‚hartnäckige Illusion‘: „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.“

Er hat die in den letzten Jahren auch öffentlich intensiv geführte Zeitdiskussion (‚Zeitknappheit und Beschleunigung‘) um 100 Jahre vorweggenommen. Wie wirklich ist die Zeit? Die Vergangenheit ist vergangen, und ist daher nicht mehr; die Zukunft ist noch nicht, und daher auch nicht real. Und die Gegenwart? Der Berührungspunkt von Vergangenheit und Zukunft, also zweier Irrealitäten und daher auch irreal. Krishanmurti nennt diese Zeit die ‚psychologische Zeit‘, die ‚erdachte Zeit‘.

So argumentierte auch schon der antike Aurelius Augustinus* und lange nach ihm viele moderne Zeitphilosophen. Der Physiker Albert Einstein hat die Frage ‚Was ist Zeit?“ klar und einfach beantwortet: ‚Die Zeit ist das, was Uhren messen‘. Diese ‚physikalische Zeit‘ beinhaltet aber nicht die ‚erlebte‘ und die ‚vorgestellte Zeit, d.h. die ‚erinnerte Zeit‘ und die ‚erwartete Zeit‘ (Zukunftshoffnungen / Zukunftsbefürchtungen, schöne und schlchete Erinnerungen). Es ist also tatsächlich sinnvoll, zwischen ‚chronologischer Zeit‘ (gemessen in Uhrzeit) und ‚psycholgoischer Zeit‘ (Phantasien und Erinnnerungen) zu unterscheiden.

Real, sagen die Weisheitslehrer aller Zeiten, sei nur das ‚zeitlose Jezt‘, der ‚zeitlose Kern‘ aller Zeiterfahrung. Wer ‚Zeit‘ versteht, der hat ihr Diktat überschritten. Ein faszinierendes Kapitel menschlicher Erfahrung! Die antike Chin. Philosophie war da schon vollkommen auf der ‚Höhe der Zeit‘:

Die Gegenwart ist im Verhältnis zur Vergangenheit Zukunft, ebenso wie die Gegenwart der Zukunft gegenüber Vergangenheit ist. Darum, wer die Gegenwart kennt, kann auch die Vergangenheit erkennen. Wer die Vergangenheit erkennt, vermag auch die Zukunft zu erkennen.“ – Lü Bu We

Und die moderne Lebensorganisation macht uns alle zu Philosophen, sagt der Zeitphilosoph Mike Sandbothe: „Durch die elektronischen Medien wird eine radikale Verzeitlichung unserer alltäglichen Zeiterfahrung vorangetrieben, die das Alltagsbewußtsein intuitiv auf den Stand bringt, der philosophisch von Kants Zeittheorie vorbereitet und von Heidegger ausgearbeitet wurde.“

Und was hat dieses ‚ur-philosophische Thema‘ mit ‚Psychohygiene‘ zu tun? Nun, bedenken Sie Folgendes:

In seinem 2006 erschienenen Buch ‚Zeit: Der Stoff aus dem das Leben gemacht ist‘ (Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008, S. 207 f.), gibt Stefan Klein eine anschauliche Beschreibung jener Art von Situation, welche wir alle kennen. „Sie sitzen im Taxi zum Flughafen. … Ihr Wagen steht eingekeilt im morgendlichen Berufsverkehr vor einer Ampel. … Ihr Puls beschleunigt sich, Ihre Hände werden feucht. Grün. ‚Fahren Sie‘, herrschen Sie den Taxichauffeur an. Dabei sehen Sie doch selbst, daß er nicht kann. – …
Sie wären jetzt bereit, aus dem Taxi zu springen und zu rennen. … … Menschen [reagieren] nicht nur auf das, was sie wahrnehmen; sie malen sich überdies die Zukunft aus. … Und selbst ein Blick auf den Kalender und ein kurzer Gedanke daran, was bis zum Urlaubsbeginn noch alles zu erledigen bleibt, kann genügen, um uns in einen Zustand handfester Panik zu versetzen.“

Schienen im Kopf

Und nun Krishnamurti:

„There are two obvious times: physical or chronological time; and the time which is constructed by thought, by the psyche, which is psychological time. We are not dealing with physical time but we are trying to determine whether through psychological time one can have freedom and therefore order. It is very important to have freedom from fear. One must understand fear and be totally free of it; otherwise there can be no order structurally, either outwardly or inwardly. One must understand not only the nature of fear, but also whether it is possible to be free of it immediately and not through the process of time. If we can free the mind, it will free itself of fear. We have used time as a means by which the mind can free itself. We hope to be free from fear through a process, whether it be analysis, discipline or understanding. We use time as a means of trying to rid ourselves of fear, of a habit or of the poison of nationalism. Is it possible? Can one be free of fear through time, by saying to oneself, „I will be free tomorrow“? Is it possible to be free of fear tomorrow, whether you restrict that tomorrow to a day, to a second or to many years?

Is there a different approach to the problem altogether? Fear in any form distorts, breeds illusion, brings about confusion. It is very destructive for a mind to be afraid and live in a state of fear. It breeds every form of illusion and conflict. Is it possible to be free of fear totally, completely – not tomorrow, but in the now which is not of time? Can one understand the whole structure, the nature and the significance of fear immediately, and bc free of it instantly? If not, then one must depend on time to free the mind from fear. This dependence on time, this usage of time, only breeds disorder. Whether one is afraid of one’s neighbour, or of ideas, or of any form of social or psychological disturbance, it does breed fear, and that does bring about disorder. Is it possible to be free of fear, not only consciously, but also at the deeper levels of consciousness? Without freedom from fear, there is no peace, either among nations, races or continents. Peace is not possible when the world is divided, not only politically and economically, but also religiously. If one would understand what peace is, actually, not theoretically – not as an idea, as something to be pursued, lived up to as an objective or a directive – one must be within oneself totally at peace psychologically, not having any form of conflict.“

http://www.jiddu-krishnamurti.net/en/1965/1965-04-29-jiddu-krishnamurti-3rd-public-talk

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* „Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht; mit Zuversicht jedoch kann ich wenigstens sagen, dass ich weiß, dass, wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wenn nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. Jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, dass sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist?“

Aurelius Augustinus – Confessiones XI, 14

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