Metanoia

Ohne Selbstdistanz bleiben Kreativität, Innovation und Schlagfertigkeit auf der Strecke. Das irritierende Novum, das Unerklärliche am Leben, wird ansonsten blitzartig ‚wegerklärt‘, wegrationalisiert:

„Das „Warum?“ soll, wenn irgend möglich, nicht sowohl die Ursache um ihrer selber willen geben, als vielmehr eine Art von Ursache – eine beruhigende, befreiende, erleichternde Ursache. Dass etwas schon Bekanntes, Erlebtes, in die Erinnerung Eingeschriebenes als Ursache angesetzt wird, ist die erste Folge dieses Bedürfnisses. Das Neue, das Unerlebte, das Fremde wird als Ursache ausgeschlossen. – Es wird also nicht nur eine Art von Erklärungen als Ursache gesucht, sondern eine ausgesuchte und bevorzugte Art von Erklärungen, die, bei denen am schnellsten, am häufigsten das Gefühl des Fremden, Neuen, Unerlebten weggeschafft worden ist, – die gewöhnlichsten Erklärungen.“ (Nietzsche)

Was in diesem Sinne heute wieder vermehrt zu üben ist, wenn wir die nötige kulturelle Selbsterneuerung betreiben wollen, also das kritische Überprüfen aller überkommenen Glaubenssysteme (ja, auch die Wissenschaften sind ein Glaubenssystem!), das ist das, was Charles S. Peirce ‚intellektuelle Integrität‘ genannt hat, also so etwas wie ‚intellektuelle Redlichkeit‘. Peirce, der Logiker und Ahnherr des amerikanischen Pragmatismus, hat vor 120 Jahren einen Aufsatz mit dem Titel ‚Fixation of Belief‘ publiziert, welcher mir der zentrale Referenztext ist für die philosophischen Aspekte von ‚Irritation‘ zu sein scheint. In diesem Text setzt Pierce nämlich stillschweigend voraus, dass jeder Mensch einem persönlichen ‚Belief-System‘ folgt, welches ihn durchs Leben navigiert. Die Brauchbarkeit dieses intellektuell-emotiven Navi-Systems erweise sich daran, dass man vermittels seiner die angepeilten Lebensziele auch tatsächlich erreichen könne. Wenn das nicht der Fall sei (und sei öfter der Fall, als uns lieb ist), dann werden wir von ‚irritierenden Zweifeln‘ geplagt. In einem solchen ‚Fall‘ ging dann all unser Streben dahin, uns diesen unangenehmen und unerwünschten Zustand so schnell wie möglich wieder vom Hals zu schaffen (diese Irritation zu beseitigen). In dieser Hinsicht decken sich die Analysen von Nietzsches und Peirce. Während Nietzsche das Heil im Entstehen und Befördern einer neuen intellektuellen Aristokratie sucht (im Übermenschentum) sucht der Pragmatiker und Demokrat Pierce diese in den positiven Wissenschaften. Diese wären nämlich langfristig die erfolgversprechendste Methode der Beseitigung von irritierenden Zweifeln. Die anderen 3 Wege, nämlich einfältige Beharrlichkeit, autoritärer Dogmatismus und metaphysischer Idealismus, sie wären viel einfacher, weniger anstrengend und kurzfristig erfolgreicher als der Weg der wissenschaftlichen Erforschung der Welt. Daher wären diese Methoden auch bei den Menschen so beliebt. Letztlich müssten diese drei illusionären Wege aber in die Sackgasse führen. Das könne auch mit dem 4. Weg passieren, sobald sich die frei forschenden Wissenschaftler ‚irritieren‘ ließen, d.h. sich primär sozialen Verwertungsinteressen unterordneten. Diesen intellektuellen Faden von Peirce hat der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman aufgenommen und in einem Satz zusammen gefasst: Das grundlegendste Prinzip besteht darin, sich selbst nicht zu täuschen – und jeder kann sich selber am leichtesten täuschen. („The first principle is that you must not fool yourself — and you are the easiest person to fool“ – Richard Feynman, Cargo Cult Science (http://neurotheory.columbia.edu/~ken/cargo_cult.html )“, adapted from a 1974 Caltech commencement address; also published in Surely You’re Joking, Mr. Feynman!, p. 343)

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