Seelische Gesundheit – Gebrochene und ungebrochene Identitäten

In der Psychologie wird häufig von der ‚integrierten, reifen Persönlichkeit‘ im Gegensatz zur ‚neurotischen Persönlichkeit‘ gesprochen. Diese ‚neurotisch‘ gebrochenen Identitäten gingen dann über – entlang dessen, was man logischerweise ‚Borderline-Persönlichkeitsstrukturen‘ zu nennen pflegt – in die ‚psychotischen Persönlichkeitsstrukturen‘.

Diese Differenzierungen laufen entlang der bekannten ‚gesund‘ – ‚krank‘ Achse: Am einen Ende des Pols die ‚gesunde Psyche‘, am anderen Ende die ‚demente Psyche‘, die ‚dekompensierte Persönlichkeit‘: fast völlig fragmentiert und desintegriert (‚dem Wahnsinn verfallen‘).

Dazwischen finden sich alle Abstufungen, wobei die ‚Borderline-Persönlichkeit‘ eine Sonderstellung einnimmt, weil sie vermittels ihrer ‚fluktuierenden Psyche‘ bei anderen (den ‚Normalen‘) für die größte Verwirrung sorgen kann.

Was genau ist aber eine ‚Neurose‘?

Die neurotische Symptombildung ist in der Psychoanalyse der Ausdruck eines unbewussten Konflikts. Bei den klassischen Psychoneurosen entspricht er einem ungelösten frühkindlichen Konflikt. Im Gegensatz dazu werden → Aktualneurosen durch einen Konflikt im unmittelbaren Erleben ausgelöst.

In der klassischen Psychoanalyse und der Psychiatrie der Freud’schen Schule und deren Nachfolgern wird angenommen, dass eine Neurose durch einen inneren, unbewussten Konflikt verursacht wird. Freud entwickelte zur Veranschaulichung der Krankheitsdynamik ein Strukturmodell der Psyche. Freud sprach von einem psychischen Apparat, der aus drei Instanzen, dem Ich, dem Es und dem Über-Ich bestehe. Bei dem unbewussten Konflikt komme es zu fehlender Anpassung des Ichs als Mittler zwischen Innenwelt und äußerer Realität. Diese mangelnde Adaptation des Ichs an alltägliche äußere Belastungen wird auf mangelhaft kontrollierbare, weil unbewusste Einflüsse des Es oder des Über-Ichs zurückgeführt. Das Es vertritt dabei den triebhaften Pol der Psyche, das Über-Ich die Rolle eines Zensors oder Richters. Die mangelnde Anpassung ist im späteren Leben häufig stellvertretende Folge eines unbewältigten frühkindlichen Traumas. Durch dieses akute Trauma oder durch leichtere sich wiederholende chronische Traumatisierungen kommt es nach der psychoanalytischen Theorie zu einer vermehrten Abwehrbereitschaft gegen diese schmerzlichen Erinnerungen. Freud gebrauchte den Begriff Neurose ab 1895 in noch heute gültigem Sinne.

Eine ‚gesunde Psyche‘ wäre demnach in diesem theoretischen Bezugsrahmen eine von allen ‚inneren Konflikten‘ freie Psyche. Gibt es eine solche Psyche überhaupt? Ist sie denkbar?

Es spricht sehr viel dafür, dass dies nicht der Fall ist. Und im klassisch psychoanalytischen Denken gibt es auch nicht die Vorstellung einer ‚konfliktfreien Persönlichkeit‘. Diese Idee ist zuerst in jenen Strömungen aufgetaucht, welche man seither als ‚humanistische Psychologie‘ zu bezeichnen gelernt hat. Gleichwohl hat man auch in der klassischen Psychoanalyse immer mehr Ausschau nach konfliktfreien Ich-Funktionen gehalten. Aber die vom Lustprinzip beherrschte Psyche blieb eine Kampfstätte unterschiedlichster, sich im Kern widersprechender Anforderungen. Solche Vorstellungen sind notwendig und richtig, zugleich aber auch irreführend und falsch. Warum?

Man muss sich nämlich klar machen, dass erst eine sich selber fragwürdig gewordene Identität nach sich selber frägt. Einem ‘gesunden’, d.h. ‘ganzem ICH’ (noch ‘nicht angekränkelt von des Gedankens Blässe’) käme die Frage nach sich selbst gar nie in den Sinn! Es verhält sich hier gleich wie mit dem sehenden Auge: Ein gesundes Auge nimmt alles wahr, was sich seinem Gesichtsfeld erschließt, außer sich selbst. Nur ein krankes Auge, ein krankhaft entzündetes Auge, ein verletztes Auge, nimmt auch sich selbst wahr. Das gesunde Auge sieht alles, nur nicht sich selbst, das eigene Sehen bleibt unsichtbar. Wasser nässt alles, nur nicht sich selbst; Feuer entzündet und verbrennt alles Brennbare, nur nicht sich selbst.

Treffend formuliert das ein bekannter Psychoanalytiker so: “Das reflexive Fragen ist nur möglich in der Situation der Isoliertheit. Einer Situation, der man auch den Namen Einsamkeit geben kann.” (A. R. Bodenheimer, Warum? Von der Obszönität des Fragens. Reclam 1985, S.239)

“ICH BIN DU”, sagt das ‘GANZE ICH’ in allem Tun und Wahrnehmen. Wenn es aber über ‘ICH’ und ‘DU’ befragt wird, dann – im Akt des ‘Nachdenkens über sich – vereinzelt sich das ICH. Dieser Schritt der ‘autonomisierenden Vereinzelung’ ist aber entwicklungspsychologisch unvermeidlich, um verstehen zu können, was mit ‚heiler Identität’ gemeint ist. Man muss die Wüste ‘Einsamkeit’ erkundet und durchschritten haben, um zu verstehen, was eine Oase ist, ganz besonders was die Oase ‘ungebrochenes ICH’ tatsächlich bedeutet.

Dazu merkte der Psychiater R.D. Laing aber folgendes an: “Phänomenologisch haben die Begriffe ‘innen’ und ‘außen’ wenig Validität. Aber in diesem ganzen Bereich ist man nur auf verbale Auswege angewiesen – Wörter sind einfach der Finger der auf den Mond zeigt. Eine der Schwierigkeiten für ein Gespräch über diese Dinge liegt heute darin, dass die Existenz innerer Realitäten überhaupt in Frage gestellt wird. Mit ‘innerlich’ meine ich unsere Art, die äußere Welt zu sehen und all jene Realitäten, die keine ‘äußere’, ‘objektive’ Präsenz haben – Imagination, Träume, Phantasien, Trance-Zustände, Realitäten kontemplativer und meditativer Stadien, wovon der moderne Mensch meist nicht die leiseste Ahnung hat.” (Ronald D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, S. 129)

Die ‚Innen‘/‚Außen‘ – Unterscheidung hätte im Bereich des psychischen Geschehens wenig ‚Validität‘, d.h., man könne ihr ‚phänomenologisch‘ nicht trauen, sagt der Psychiater Laing. Warum?

Weil alles psychisches Geschehen prinzipiell ‚selbstbezüglich‘ sei, d.h. das Treffen weiterer Unterscheidungen innerhalb des bereits ‚fertigen‘ Universums der Psyche. Psychische Arbeit ist wesentlich‚ Verinnerlichung von Erlebtem‘. Je mehr Erlebnisse wir verinnerlicht haben, desto mehr ist dieser erinnerte und verinnerlichte ‚Erfahrungsschatz‘ das für uns gültige Referenzsystem. Desto mehr sind wir ‚ICH‘. Aber desto weniger nehmen wir ‚original‘ wahr. Denn im Augenblick des originalen Wahrnehmens findet eine Öffnung der Psyche nach ‚außen‘ statt, ohne dass uns diese Tatsache dabei aber besonders auffiele.

Frage: Was ist der Duft einer Rose? Wie schmeckt Mineralwasser? Was heißt es, ‘zu lieben’?

Keine Beschreibung, keine ‚innerpsychiche Reflexion‘ wird je eine gültige Antwort auf die Qualität von Erlebnissen liefern können. Wir müssen einer Rose tatsächlich begegnen, dann wissen wir ganz unmittelbar, was der ‘Duft einer Rose’ bedeutet.

Was uns heute immer weniger gelingt – identifiziert mit Theorien über die Psyche und identifiziert mir unserem persönlichen Erfahrungsschatz – das ist aber gerade dieses ‘offene Begegnen’, diese ‘originale Begegnungsqualität’. Das ‚Wesen einer Sache‘ lässt sich aber ‘innerpsychisch niemals erfahren’ bzw. ‘erschließen’, Es erschließt sich uns nur im Akt des originalen Begegnens, im phänomenalen Erleben. Augenblicklich ist dann alles da, alles klar. Wer zum allerersten Mal einen Apfel isst, der weiß in diesem Moment, was ein Apfel ist (was die Kategorie ‘Apfel’ bedeutet). Wer hundert verschiedene Apfelsorten gegessen hat, der kann feiner differenzieren, ja. Aber in dem einen Apfel sind bereits alle Äpfel enthalten:

“Was ist das Allgemeine?

Der einzelne Fall.

Was ist das Besondere?

Millionen Fälle.”

 

J.W. Goethe

“Die Macht der Ausschließlichkeit hat mich ergriffen. Dazu tut nicht not, daß ich auf irgend eine der Weisen meiner Betrachtung verzichte. Es gibt nichts, wovon ich absehen müßte, um zu sehen, und kein Wissen, das ich zu vergessen hätte. Vielmehr ist alles, Bild und Bewegung, Gattung und Exemplar, Gesetz und Zahl, mit darin, ununterscheidbar vereinigt”, sagt dazu Martin Buber so treffend.

Man kann jetzt also sagen:

Eine ‚gesunde Psyche‘ wäre demnach eine von allen ‚inneren Fixierungen‘ freie Psyche, eine Psyche, welche dazu fähig ist, gemachte Erfahrungen einzuklammern, diese zwar zu benutzen, wenn es nötig ist; im Kern ist es aber eine Psyche, welche sich an keine Erfahrung hängt, sich in mit keiner identifiziert, weil sie unmittelbar weiß, dass sie sich damit aus der Oase ‚originale Begegnung‘ in die Wüste der Einsamkeit verbannt.

Nur eine solche Psyche kann dann ‚ungebrochene Identität‘ genannt werden. Das theoretische Konstrukt ‚integrierte Persönlichkeit‘ ist aber kategorial etwas ganz anderes. Es ist, um es pointiert zu sagen, eine ‚kranke‘ Phantasie gebrochener Identitäten, ein ‚Sehnsuchtsprojekt‘, eine ‚Projektion‘, ein nie zu erreichender Wunschzustand, aber niemals – Aktualität.

‚Seelische Gesundheit‘ lässt sich theoretisch nicht ‚definieren‘, nur leben und erleben. Wenn aber das, was die Psyche ‚krank macht‘, nämlich das ‚Kleben an bestimmten Vorstellungen und Erinnerungen‘ zu einem natürlichen Ende gelangt, dann kann wieder das eintreten, was uns allen in die frühe Kindheit scheint: spontanes und originales Begegnen.

→ Wenn dies eintritt, ohne Zwang und Drang, dann ist die Psyche ‚geheilt‘ und ganz.

Ohne bewusstes und ausdauerndes Durcharbeiten aller ‚fixen Ideen‘, die uns im Griff haben, ist ‚seelische Gesundheit‘ also nicht zu haben.

Alles Reden von ‚ungebrochener Identitäten‘ macht uns dann nur noch kränker, ist dann integraler Teil der Problemerhaltung und nicht Teil der Lösung.

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